Ein klares Bekenntnis des Schulleiters zu Europa, und eine ebenso deutliche Warnung vor wieder aufkeimendem Nationalismus bildeten die Ouvertüre einer Diskussionsrunde zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die die BSGG jetzt anlässlich der Europawoche veranstalteten: „Die EU hat Hindernisse und Nationalstaatlichkeit überwunden“, sagte Martin Gonnermann vor Schülern und Lehrern des Wirtschaftsbereichs der BSGG. „Aber die Situation ist insgesamt unsicherer geworden.“ Beispielhaft verwies er dabei auf den lautstark propagierten „America-First“-Protektionismus der Regierung Trump. Aber auch in Europa sei die Wiederkehr nationalistischer Tendenzen unübersehbar: Die lange offene „Schicksalswahl“ in Frankreich sei dabei ebenso ein Fanal gewesen, wie das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte etwa in Polen oder Ungarn, aber auch in den Niederlanden oder Österreich.
Sorgen um das Europäische Haus
Auch der nach einem Volksentscheid inzwischen beantragte Austritt Großbritanniens aus der EU trägt selbstverständlich nicht dazu bei, das europäische Haus weiter zu befestigen – im Gegenteil. Anlass genug also für BSGG-Lehrer Alexander Röllig, die vielfältigen Sorgen und Befürchtungen im Rahmen eines Panels von Fachleuten einmal gründlich beleuchten zu lassen. Röllig, der die Diskussion selbst moderierte, hatte ein differenziert und hochkarätig zusammengesetztes Podium aus Wirtschaftsvertretern, Politikern und Wissenschaftlern gewonnen, das sich nicht nur ausführlich den Fragen des Moderators, sondern auch engagiert und kompetent den Schülerinnen und Schülern stellte.
Britisches Verhältnis zum „Kontinent“ schon immer ambivalent
Im historischen Zusammenhang verwies Dr. Martin Grosch vom hessischen Kultusministerium zunächst darauf, dass die Beziehungen zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa immer schon ambivalent gewesen seien. Unter anderem hätten der Insel-Status und das Selbstverständnis als Weltmacht mit kolonialer Vergangenheit und dem Commonwealth im Hintergrund die Briten immer ein Stück weit auf Distanz zur EU gehalten. Bereits 1975 gab es ein erstes Referendum über einen möglichen Austritt. Und nicht umsonst sei Großbritannien weder dem Euro-Raum noch dem Schengen-Abkommen beigetreten.
Europapolitiker warnt vor Dominoeffekt
Dem CDU-Europaabgeordneten Michael Gahler war die Enttäuschung über die britische Entscheidung noch immer deutlich anzumerken. Emotional machte er Großbritanniens ehemaligen Premierminister David Cameron für das unselige Referendum verantwortlich, mit dem dieser eigentlich nur das rechte Spektrum seiner konservativen Partei habe beruhigen wollen. Die jetzige Premierministerin Theresa May bezeichnete er als „tragische Figur“, die politisch umsetzen müsse, wovon sie selbst überhaupt nicht überzeugt sei.
Gahlers deutliche Worte waren jedoch nicht gekränkter Eitelkeit geschuldet, sondern vor allem der Sorge vor einem Dominoeffekt: Wie auch andere Podiumsteilnehmer forderte der Politiker, dass Großbritannien aus den Austrittsverhandlungen keine Vorteile ziehen dürfe, um andere Staaten damit nicht ebenfalls zum Austritt zu ermutigen.
Insgesamt zeigte sich Gahler aber trotz des Brexit optimistisch, was die künftige Rolle der EU in der Welt angeht: „Die EU bleibt auch ohne Großbritannien ein attraktiver Partner.“ Dies gelte vor allem im Hinblick auf politische und wirtschaftliche Schwergewichte wie die USA, Kanada und China. Und gallig fügte er noch hinzu: „Die Briten werden erleben, wie irrelevant sie sind.“
Wirtschaftliche Auswirkungen des Brexit noch gar nicht wirklich absehbar
Befragt zu einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), der zufolge Unternehmen die möglichen Auswirkungen des Brexits derzeit in der Tat als noch nicht übermäßig dramatisch einschätzen, sagte der Volkswirt bei der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), Christian Appelt: „Zunächst wurde befürchtet, dass mit dem Brexit die Welt untergeht. Das tut sie aber nicht.“ Allerdings warnte Appelt eindringlich davor, sich bereits entspannt zurückzulehnen. „Es ist ja auch noch nichts passiert.“ Erst mit dem Verlauf der Austrittsverhandlungen würden die Brexit-Auswirkungen zutage treten. Die Frage „Was kommt noch?“ stehe bis dahin im Raum.
Chancen für deutsche Nachwuchsbanker
Im Hinblick auf mögliche Gewinner und Verlierer des Brexit bezog Dr. Alpay Soytürk ganz klar Position: „Verlierer werden die Londoner Mitarbeiter im Finanzsektor sein“, sagte der Großbritannien-Experte der Deutsche Börse AG. Er gehe davon aus, dass beispielsweise im Derivatehandel Geschäft und damit auch Arbeitsplätze aus London abgezogen und an andere Standorte verlegt würden. Neben Dublin und Paris dürfte davon der Finanzplatz Frankfurt profitieren. „Daraus ergeben sich auch Chancen für deutsche Nachwuchsbanker“, betonte Soytürk gerade auch im Hinblick auf den starken Wirtschaftszweig der BSGG.
Einig waren sich alle Podiumsteilnehmer in der Einschätzung, dass die EU geschlossen mit Großbritannien verhandeln müsse. Einzelne Mitgliedsstaaten dürften sich von der britischen Seite nicht in Separatverhandlungen abspalten lassen, und es dürfe kein „Rosinen picken“ geben. Trotz der erwarteten Härte dürften viele strittige Punkte den Erwartungen zufolge am Ende pragmatisch gelöst werden, so auch das strittige Bleiberecht für EU-Staatsangehörige.
Zusammenhänge verstehen schützt vor Verführung
Dass auch nach 90 Minuten angeregter Diskussion nicht alle Fragen des hochkomplexen Themas abgearbeitet sein konnten, erscheint klar. Darum ging es aber nach den Worten von Schulleiter Gonnermann auch erst in zweiter Linie: „Eine Diskussion wie diese trägt dazu bei, die Globalisierung insgesamt besser zu verstehen“, sagte er an die Adresse der Schüler. „Auch deswegen sind wir ein Wirtschaftsgymnasium.“ Und wer die Zusammenhänge kenne, sei als Mitglied der Gesellschaft weniger anfällig für populistische Parolen. „Seid nicht verführbar!“, so lautete der Aufruf des Schulleiters am Schluss.